Kandel – Schlafstörungen, Nervosität, in der Folge Krankheiten: Das beklagen viele Anwohner, die an Durchgangsstraßen leben.
Wenn Fahrzeuge mit Tempo 50 durch die Hauptstraßen der Dörfer und Städte fahren, ist die Lärmbelästigung höher als bei Tempo 30. Viele wollen sich mit dem Krach nicht mehr abfinden und sind dem Netzwerk Tempo 30 Pfalz beigetreten.
Die Vereinigung mehrerer Bürgerinitiativen aus verschiedenen Orten der Südpfalz und mittlerweile der gesamten Pfalz kämpft für mehr „Tempo 30“ in den Ortschaften.
Seit dem letzten Treffen im Juni hat sich nun doch einiges getan. Darüber berichteten in Kandel bei einer Veranstaltung in der Stadthalle der Anwalt des Netzwerks, Dr. Wolfram Sedlak aus Köln (Fachgebiet Umweltschutz), und die beiden Staatssekretäre Thomas Griese vom Umweltministerium in Mainz und Günter Kern vom Innenministerium.
Eine bereits bestehende „Handreichung“ sei inzwischen vom Umweltministerium an die aktuelle Rechtslage angepasst worden, berichtete Sedlak in seinem ausführlichen Impulsreferat.
Die beiden Fachministerien Inneres und Umwelt haben sich auf die neue Handreichung bei Lärm verständigt. Künftig werden die Lärmwerte Bundesimmissionschutzverordnung angewandt.
Das bedeutet, dass Tempolimits bereits bei deutlich niedrigeren Lärmpegeln von den zuständigen Kommunen im Einzelfall überprüft werden müssen.
In Misch- und Dorfgebieten sind das tagsüber Werte oberhalb von 64 Dezibel und nachts mehr als 54 Dezibel.
Bei Lärm oberhalb von 70 (Tag) und 60 (Nacht) Dezibel muss demnach eine Überprüfung angeordnet werden.
Es besteht von nun an Handlungspflicht für Behörden und Ministerien: Jede Überschreitung ist relevant – auch wenn sie noch so klein ist. Geprüft werden muss also auf jeden Fall – und die Gerichte seien sehr streng bei der Überprüfung, versicherte Sedlak.
Bei unterschiedlichen Auffassungen der unteren Verkehrs- und Umweltbehörden (Landesbetrieb Mobilität LBM) entscheiden Infrastruktur- und Umweltministerium künftig gemeinsam.
Innerhalb der Messwerte kann Tempo 30 nicht automatisch verlangt werden. Hier gilt die „Ermessensausübung“ – die Verkehrsbehörden können anordnen, müssen aber nicht.
Bei Lärm gelte: Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen und somit gesundheitliche Beeinträchtigungen sind höher einzuschätzen „als ein paar Minuten länger mit Tempo 30 durch eine Straße zu fahren“ (anstatt mit 50), erklärte Sedlak. Die Interessen der Anwohner müssen abgewogen werden gegenüber denen der Autofahrer.
Den Antrag für eine Überprüfung kann jeder Anwohner bei der entsprechenden Stelle seiner Verbandsgemeinde stellen. Dann muss ein Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt werden.
Einen sogenannten Lärmaktionsplan sollten die Anwohner ebenfalls aufstellen. Entsprechende Messgeräte für eine Einschätzung vorab gibt es beim VCD auszuleihen. Die Straßenverkehrsbehörde ist dann verpflichtet, die Berechnungen anzustellen.
Dr. Markus Müller von der Bürgerinitiative Herxheimweyer bot an, bei Überwachung von Tempolimits außerhalb der von der Polizei häufig bedienten Gefahrenstellen zu vermitteln.
„Eigentlich nur Vorteile“
Eine Geschwindigkeitsbegrenzung anzuordnen habe kaum negative Auswirkungen, so die Staatssekretäre. Es gebe weniger Stau (im Gegensatz zur allgemeinen Auffassung), die Leistungskapazität der Straßen steige.
Zudem könne man dann meist auf künstliche Hindernisse wie Poller oder Blumenkübel zur Verlangsamung des Verkehrs verzichten.
Außerdem sei Tempo 30 eine schnell wirkende Maßnahme. Problematischer sei höchstens der Verlagerungsverkehr, wenn Fahrer auf Nebenstraßen ausweichen würden.
Grundsätzlich 30 vor Kitas und Schulen
An kritischen Stellen wie vor Kitas, Schulen oder Seniorenheimen soll bald eine umgekehrte Beweisführung gelten. Das bedeutet, es wird automatisch Tempo 30 ausgewiesen. Ein Tempo 50-Verkehr muss dann explizit begründet werden.
Bundestagsabgeordneter Dr. Thomas Gebhart sprach von einer bislang konstruktiven Zusammenarbeit und hofft auf die Änderung in der Straßenverkehrsordnung noch in diesem Jahr. Demnächst werde sich das Kabinett und der Bundesrat damit befassen – die Verkehrsminister der Länder seien sich jedoch im Großen und Ganzen einig über die neuen Maßnahmen.
Landtagsabgeordneter Martin Brand (CDU) plädierte für mehr Umgehungsstraßen und appellierte zusammen mit Landrat Dr. Brechtel für mehr Gelder von der Landesregierung.
3 Millionen Euro Mittel landesweit würden bei weitem nicht ausreichen – das reiche noch nicht einmal für die Umgehungsstraße Bellheim.
Auch anderen Orten mit Durchgangsstraßen helfe dieser minimale Betrag nicht weiter. Der beste Verkehr sei schließlich derjenige, der gar nicht erst in die Orte fahren wolle.
Keine neuen Straßen zu wollen – das wies der unter anderem angesprochene Bundestagsabgeordnete der Grünen, Dr. Tobias Lindner, vehement zurück.
Man wäge nur genau ab, wann eine neue Straße, die die Landschaft zerschneide, wirklich Sinn mache und wann nicht.
Der Vorschlag der Grünen sei nach wie vor, Tempo 30 generell anzusetzen und statt dessen die Ausnahme Tempo 50 anzusetzen. In Berlin beispielsweise seien 80 Prozent der Straßen mit Tempo 30 ausgewiesen: „Und die Menschen dort leben immer noch.“
Jutta Blatzheim-Roegler, verkehrspolitische Sprecherin der Grünen-Landtagsfraktion, sieht das ebenso. Die Entscheidung solle jedoch möglichst breitflächig sein: „Wir werden ja gerne als Verbotspartei gelabelt: Das ist nicht das Ziel. Sondern das, was die Bürger vor Ort wollen.“ Dafür müsse man die richtigen Instrumente finden.
Die Landtagsabgeordneten Barbara Schleicher-Rothmund (SPD, Kreis Germersheim) und Alexander Schweitzer (SPD, Kreis SÜW und VG Kandel) mussten andere terminliche Verpflichtungen wahrnehmen, bevor sie zu Wort kommen konnten.
„Politik muss helfen“
Im anschließenden Frageteil meldeten sich zahlreiche lärm- und stressgeplagte Bürger, die das Gefühl hatten, der LBM nehme ihre Anliegen nicht ernst und „wiegle immer ab“. Es sei ein „Unding“, dass es Jahre brauche, bis man Tempo 30 erreiche.
Eine Knittelsheimerin beklagte, seit Jahren mit ihren Eingaben an den LBM immer „abgewiegelt“ worden zu sein.
Die Politik sei gefordert, Menschen zu schützen – auch Minderheiten, „nicht die große Mehrheit der durchfahrenden Gesamtbevölkerung, denen das eigentlich wurst ist“, kritisierte ein Einwohner aus Schaidt. Die „Politikentscheider“ wohnten wohl nicht an solchen Straßen.
Auch nach dem offiziellen Ende hatten noch viele der rund 150 Anwesenden Fragen an die Experten.
Durch den Abend moderiert hatten Christian Vedder von der BI Kandel Tempo 30 und Karin Bartz von der BI Herxheimweyher. (cli)
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